Veröffentlicht am Januar 22, 2022 von Franziska Kral
Die narzisstische Gesellschaft
Der Begriff des Narzissmus ist bereits seit einigen Jahren populär und in vieler Munde, dennoch findet auch heutzutage kein reflektierter Umgang damit statt. Worin liegt hierbei die Ursache?
Unsere Gesellschaft lebt von der narzisstischen Ader eines jeden Menschen, Prestige, Selbstbezogenheit, Anerkennung durch materielle Güter - mit all diesen illusionären Werten lassen sich in unserer blinden Konsumwelt große Gewinne generieren. Die narzisstische Gesellschaft lebt von der sozialen Ungleichheit, denn wie könnte der Narzisst sein verletztes Ego besser polieren - als sich den weniger erfolgreichen, intelligenten oder reichen Menschen überlegen zu fühlen.
(Pixabay.com)
An dieser Stelle sei verraten, dass fast jeder Mensch narzisstische Anteile in sich trägt - so können diese als Schattenaspekt tief in unserem Unterbewusstsein abgespeichert sein. Das Gefühl von Mangel im Menschen entsteht bereits in der Kindheit, verletzte Anteile führen zu tiefen Verletzungen und wirken bis ins späte Erwachsenenalter. Da das Ego verschiedene Schutzmechanismen bedient, um das Gefühl von Mangel und Ohnmacht auszugleichen - kann auch der Narzissmus auf unterschiedliche Art und Weise ausgelebt werden.
Stelle dir nun folgende Fragen: wie oft begegnen dir Menschen im Leben - die sich wahrhaftig für dich interessieren? Wie viele Menschen stellen die Frage: ,,Wie geht es dir?" nicht aus Gewohnheit und als alte Floskel, sondern weil dein Wohlergehen ihnen am Herzen liegt? Wie viele Menschen begegnen sich auf der Straße, in der Stadt, in der Bahn und schauen sich dabei in die Augen? Tauschen ein Lächeln aus?
Und stelle dir nun für dich die folgenden Fragen: Wie oft erkundigst du dich ehrlich nach dem Wohlergehen deiner Mitmenschen? Denkst du bei jedem Satz, den ein anderer spricht - bereits über das nach, was du dann endlich sagen kannst? Wie aufmerksam hörst du deinem Gegenüber zu?
Die Jagd nach materiellen Besitz, Status und Anerkennung findet kein Ende - nein sie wird durch Medien, Politik und Werbeterror weiterhin angetrieben. Da die wenigsten Menschen ausreichend Kraft, noch eine der wichtigsten Ressourcen - nämlich Zeit besitzen, außerhalb ihres Hamsterrades über den Tellerrand von übernommenen Werten, Vorstellungen und Weltbildern zu blicken - ergeben sie sich den vorgekauten Meinungen der Öffentlichkeit. Sie flüchten vor dem eigenen Schatten, negieren alles Dunkle und hechten falschen Illusionen hinterher. Getrieben durch das Unbewusste, dem eigenen Wesenskern so fern wie nie zuvor - leere Augen, vermögen sie die innere Leere nur mit erneutem Vakuum zu füllen. Öffentliche Meinungen werden blind übernommen - der eigene Verstand in den Ruhestand versetzt.
Moralischer Narzissmus, eine wahre Bedrohung für die Beziehungsfähigkeit der Menschen innerhalb einer Gesellschaft. Nur die wenigsten Menschen vermögen es heutzutage, andere Meinungen neben ihrer eigenen stehen zu lassen. Die eigene Vorstellung und Definition von Moral ist die einzig Wahre und wird oft undifferenziert durch äußere (manipulative) Einflüsse übernommen. Der Zeigefinger wird gut und gerne über andere Menschen erhoben, dabei werden häufig massentaugliche Floskeln übernommen - da diese wenig Angriffsfläche bieten und von einem Großteil der Menschen akzeptiert und angenommen werden. Der Narzisst benötigt diese Art der Bestätigung, er nutzt jede Gelegenheit um das eigene Mangelgefühl auszugleichen. Dabei wird das Gegenüber schnell als Gefahr deklariert - insbesondere wenn die Medien diese Meinungen als Feindbilder gebrandmarkt haben.
,,Es darf keinen Zweifel darüber geben, auf wen sich der Hass der Öffentlichkeit zu richten hat." (Harald D. Laurwelt, 1927)
Toleranz und Respekt lassen sich in dieser speziellen Form der Moral nicht auffinden, der Narzisst versucht sich auch hier anhand seiner Vorstellungen von Gut und Böse zu erheben - das Gefühl von eigener Größe kann nur durch die Herabsetzung der Meinungen des Gegenüber entstehen. Wahre Größe kann allerdings nicht durch solch perfide Manipulation erlebt werden, sie entsteht genau dann - wenn wir beginnen uns selbst zu erforschen. Denn wenn wir beginnen, uns von Grund auf kennenzulernen - die Vergleiche und Herabsetzungen von anderen Menschen nicht mehr benötigen, uns verstehen und akzeptieren lernen, entsteht eine ungeahnte & wahrhaftige Größe.
Die wahre Größe kann andere Meinungen und Weltbilder neben den eigenen stehen lassen, sie drückt niemanden in die Tiefe und erkennt auch in differenzierten Sichtweisen die Größe des Anderen. Wir Menschen verspüren unbewusst den Wunsch, ein anderer würde exakt denken und fühlen, wie wir es tun. Jede Meinungsverschiedenheit kann zur Tragödie werden, da wir uns unverstanden und nicht gesehen fühlen. Neben unserem Wunsch nach Individuation mischt sich der Wunsch nach Anpassung und Gemeinschaft, vertritt unser Gegenüber eine gänzlich andere Anschauung - können alte Schattenaspekte sichtbar werden: die Angst vor Ablehnung, Verlust von Kontrolle und die fehlende Bestätigung durch die Außenwelt.
In der jetzigen Zeit ist es wichtiger denn je, diese Schattenaspekte nicht in die dunklen Tiefen unseres Unterbewusstseins zu vergraben. Krisenzeiten dienten seit jeher für persönliche & kollektive Transformationsprozesse, sie spülen alles Verdrängte an die Oberfläche und alte Verstrickungen können nun wahrgenommen und aufgelöst werden. Wer sich nun seinem narzisstischen Anteil stellt, stellt die Weichen für eine neue Gesellschaftsform und fördert zudem den individuellen Entwicklungsprozess. Du wünscht dir eine neue Gesellschaft? Neue Umgangsformen, Ehrlichkeit und Mitgefühl? Dann beginne in deinem eigenen Prozess und integriere verschüttete Schattenaspekte.
Literaturempfehlungen:
Die narzisstische Gesellschaft - Joachim Maaz
Haben oder Sein - Erich Fromm
Interview mit Erich Fromm: https://www.youtube.com/watch?v=mn2dfTm0nDc
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